Unhinged Entertainment Content für Krankenhäuser?
In einem ersten Vortrag am zweiten Tag von OMR präsentierte Chefredakteur Roland Eisenbrand auf der Conference Stage drei Superkräfte für den Kurzvideobereich. In der Keynote State of the German Internet kommt zu der Auffassung, ein wichtiger Aspekt in den nächsten zwei bis drei Jahren läge darin, die begonnenen und noch nicht ausgeschöpften Potenziale beim Trend Kurzvideo weiterzudenken.
Kurz nach diesem Slot gab der OMR-Gründer Philipp Westermeyer noch Tipps, wie man eine Marke auflädt. Mit Euch möchte ich einen Widerspruch teilen, den ich glaube, erkannt zu haben. Dazu später im Text mehr.
OMR ist das Festival für das digitale Universum. Es findet jährlich in Hamburg statt und dreht sich primär um das Online-Marketing für absatzorientierte Geschäftsmodelle. Das ist wichtig, weil ich in diesem Beitrag die von Roland und Philipp genannten Punkte im Zusammenhang mit einem stark beziehungsorientierten Gesundheitsgeschehen diskutieren möchte.
Leistungserbringung & Social Media
Immer häufiger trifft man Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen in sozialen Medien an. Herrschte anfangs noch Verunsicherung, ob ein Krankenhaus überhaupt eine Facebook-Seite benötigt, drangen viele Einrichtungen mit dem sich verstärkenden Fachkräftemangel auch in benachbarte Netzwerke, die dem Personalkarussell neuen Schwung verleihen sollten. Fachkräfte selbst entstehen durch die Finanzierung aufwendiger Personalsuchkampagnen wohl kaum. Aber eines Tages machten es zwar nicht alle, aber mindestens so viele, dass sich Krankenhäuser seitdem genötigt sehen, einen Teil der solidarisch vorfinanzierten Einnahmen darauf zu verwenden, die Teams von Intensivstationen auf TikTok tanzen zu lassen.
Social Media wandelt sich gerade stark. Roland Eisenbrand zitiert einen ehemaligen Facebook-Manager, der heute bei TikTok arbeitet, mit den Worten, dessen neuer Arbeitgeber verstehe sich nicht länger als ein Social Media. Vielmehr sei man heute eine Plattform für Unterhaltung. TikTok verabschiedet sich damit von dem, was uns soziale Medien einst versprachen. Einen hohen Grad an Interaktion und Gespräch; eine hinreichende Vernetzung entlang unserer Interessen und Peer-Groups. Nachdem Twitter sich in eine soziale Schmollecke für emotionsüberforderte Trolls verwandelt hat, wagt TikTok den Schritt in die Achtzigerjahre der Medientheorie und setzt auf Broadcasting und vor allem Konsum von Inhalten. Ich verstehe das als Kulturkritik zur dringend benötigten gesellschaftlicher Deliberationen. Andere mögen behaupten, das Aushandeln von Werten als normativen Kern von Gesellschaften habe noch nie auf Social Media stattgefunden. Denen entgegne ich, dass die Wirkmächtigkeit von Netzwerken nicht unterschätzt werden kann. Denn tatsächlich dürften allein das Verhalten, ein Tun in sozialen Medien Fakten schaffen, wenn es darum geht, Grundwerte neu zu verhandeln. Wenn TikTok für sich die richtige Strategie gefunden hat, heißt das nicht, dass es richtig ist, wie sich Kommunikation in diesem Medienbereich darstellt.
Der Einwand, auf TikTok teilen zu 100 % die Nutzer selbst Inhalte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass von den 755 Millionen aktiven Nutzern (2022, Statista) nur ein Bruchteil selbst Inhalte veröffentlichen. Der Anteil ist gegenüber der konsumierenden Community eher klein. Tatsächlich mischen zu einem großen Teil etablierte Medienmacher auf diesen Plattformen mit. Auch wenn sich unter den nach Followerzahlen Top-10 Accounts in Deutschland kein etabliertes Medienhaus findet.
Bleiben wir mal bei den einfachen Fakten. Die Anzahl der hier eingeblendeten Stunden verbringen die Deutschen pro Monat auf den drei genannten Plattformen.
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TikTok
Bei einer Zeit von rund 730 Stunden pro Monat (pro Woche 168 Stunden) dürfen wir feststellen, dass Mediennutzer einen Teil des Konsums von Inhalten zu diesen Plattformen verlagert haben. Mutmaßlich steigt der Medienkonsum pro Kopf, denn auch andere Formate melden steigende Zahlen bei der Nutzungsdauer. Diese Zeit fehlt, um sich in anderen Foren engagiert und medienkompetent um den Fortschritt unserer Gesellschaft zu kümmern.
Das mag sich alles differenzierter darstellen, wenn man den Faktor Generation berücksichtigt. Denn tatsächlich schauen die Älteren weiterhin gern TV und junge Menschen, die seltener zu einem Arzt gehen oder ein Krankenhaus in Anspruch nehmen, suchen sich Inhalte auf TikTok, Instagram und trotz aller Unkenrufe auf Facebook. Denn das ist ja, was uns eingangs interessierte. Welche Bedeutung haben Kurzvideos mit tanzenden Pflegekräften, sich kund tuenden Ärztinnen und Ärzten oder Baustellen-Accounts von aktiv am Gesundheitsgeschehen beteiligten Einrichtungen, wenn es darum geht, sich mit sozialer Verantwortung öffentlich einzubringen?
Eine kritische Superkraft für Kurzvideos
Allseits beliebt und von TikTok in die Welt gebracht sind die oben angesprochenen Kurzvideos, die bei YouTube Shorts und bei Instagram und Facebook Reels heißen. Geschäfts- und Karrierenetzwerke wie LinkedIn und XING verzichten auf solche Formate und kamen zuletzt über das Testen von Storys als Format nicht hinaus.
Kurzvideos rangieren in einer an Körperverletzung grenzender Vielfalt. Neben seltenen Einblicken in mit Drohnen erkundete, ästhetisch anmutende Naturparadiese, denen man das Anthropozän nicht ansehen kann, tummeln sich noch Hobbyerklärbären, die uns allerlei Einblicke bieten und manchmal funktioniert das sogar einigermaßen. Wenn sich der Algorithmus gemäß dem Verhaltensüberschuss bei einem Welpenbesitzer erst einmal angepasst hat, stehen die Hundetrainer virtuell Schlange. Sie versorgen Dich je nach Situation ungefragt mit Tipps und Tricks und Kurzfilme natürlich auch, um den Absatz ihrer Online-Trainings für Hunde nach oben zu bringen. Niemand fragte je, wie es den Hunden geht, die über ein E-Learning erzogen wurden. Damit stecken wir jedoch schon in der Ecke des sogenannten Infotainments, das zwar ein beliebtes Genre ist, aber noch keine Superkräfte für Kurzvideos hat, wie sie auf dem OMR Festival gezeigt wurden.
Eine dieser Superkräfte, mit der man möglichst viel Performance erreicht, hört auf die Abkürzung UEC. Mit Performance ist hier Reichweite (Klicks) und Zustimmung (Likes) gemeint.
Unhinged Entertainment Content ist eine der beim OMR Festival vorgestellten Superkräfte für Kurzvideos, die scheinbar ein eigenes Genre begründet. Inhalte, die bewusst Verwirrung stiften sollen, wirken auf mich als versinke die Menschheit gerade in einem infantilen schwarzen Loch. Wir alle kennen die Blödelrunden im Freundeskreis, wenn alle wichtigen Themen abgeräumt sind und einem bierlaunig nicht mehr einfällt, als nur noch Scheiße zu reden. Das müssen wir uns als Performance vorstellen, wenn wir über Unhinged Entertainment Content sprechen. So soll sich eine Marke mit Superkraft präsentieren. Was sich unter Freunden nach ein bis drei Lachern ausschleichen durfte, steht heute vernetzt im Netz. Es wird inflationär und mit Hoffnung geteilt, um diesen einen Lucky Punch zu landen, mit dem man seine Marke dann in der entsprechenden Zielgruppe platziert. Scheinbar lässt sich so viel Geld für kostenpflichtige Formate sparen. Manchen Marken gelingt das sogar einigermaßen gut. Roland Eisenbrand berichtet von einer App für Sprachunterricht, die damit durchschnittlich bis zu einer halben Million Likes erreicht haben soll. Aber gelingt das auch einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis mit Social-Media-Account? Wohl kaum. Es gibt kein globales, absatzorientiertes Geschäftsmodell. Ein wichtiger Unterschied, falls man als Gesundheitseinrichtung plant, sich auf dem OMR Festival umzuschauen.
Wenn das der Trend ist, der sein Potenzial noch nicht ausgeschöpft hat, dann Prost Mahlzeit.
Jetzt Marke aufladen
Nachdem Roland den Trend für Unhingend Entertainment Content (kurz UEC) vorgestellt hatte, kam Philipp Westermeyer mit Tipps, wie man seine Marke aufladen kann. Die von ihm präsentierten Beispiele hatten nichts mehr mit den Superkräften für Kurzvideos zu tun, aber kommen zumindest temporär jenem sozialen Auftrag nahe, den ich Krankenhäusern und Arztpraxen unterstelle. Allerdings kann auch das nicht eins zu eins übernommen werden.
Grundsätzlich sollten Marken in Sozialen Medien, die nach obiger Feststellung gar keinen gesellschaftlichen (sozialen) Aspekt mehr verfolgen, etwas Sinnvolles tun oder zumindest ausstrahlen. Damit kommen wir zu dem eingangs erwähnten Widerspruch. Wie lade ich das Ding auf, wenn der Purpose eine Marke, also die Bestimmung sinnvoll kommuniziert werden soll, wenn gleichzeitig aber mit verwirrenden Inhalten gearbeitet werden muss? Was sich auf dem OMR Festival in einer Viertelstunde die Klinke in die Hand gab, lässt sich so nicht praktisch denken, oder doch? Kommen wir zu dem Beispiel von Airbnb nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine.
Airbnb hatte damals seine Community aus Hosts außerhalb der Ukraine dazu aufgerufen, verfügbare Unterkünfte für Schutzsuchende aus dem angegriffenen Land zur Verfügung zu stellen. Airbnb zahle den Ausfall gegenüber frei akquirierten Gästen. Daraus ergab sich zumindest für kurze Zeit ein PR-Erfolg und Nachahmer. Denn im Umkehrschluss wurden dann die wenig attraktiven Unterkünfte im Kriegsgebiet bei Airbnb als Spende gebucht. Viele buchten mit einem schönen Gruß und fuhren einfach nicht hin. So kamen Spenden direkt dort an, wo sie vermeintlich gebraucht wurden.
57 Prozent der Deutschen kaufen, wenn das Produkt einen gesellschaftlichen Wert nachweisen kann. Wie aber gelingt das mit Unhinged Entertainment Content (UEC), wenn die Kurzvideos, die ich dazu in sozialen Medien nutze, einer regelhaften betriebenen Sinnverweigerung bedienen; also Nonsens sind. Überlassen wir das den absatzorientierten Geschäftsmodellen.
Empfehlung für Gesundheitseinrichtungen
Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen werden nach Anzahl der Fälle und ihrem Schweregrad vergütet, jedoch noch in unendlicher Höhe. Ein absatzorientiertes Geschäftsmodell, das sich global skalieren ließ, liegt nicht vor.
Mit oder ohne Social Media müssen Gesundheitseinrichtungen jeder Größe darauf achten, dass sie die Gesundheitsbeziehungen zur Community im Blick behalten. Dazu eignet sich tatsächlich ein sinngebendes Vorgehen. Es gilt Projekte zu initiieren, die dem sozialen Auftrag gerecht werden und den Anspruchsgruppen ihr Haus näher bringen, auch wenn sie bisweilen keine Versorgungsleistung in Anspruch nehmen wollen würden. Die Progression (Förderung) von Gesundheitskompetenz scheint ein solch sinnstiftendes Feld zu sein, das über die Pressemeldung hinaus gedacht werden muss. Dazu eignen sich vielleicht Kurzvideos, die ganz sicher nicht mit verwirrenden Inhalten im Sinne von Klicks oder Likes den Marketingmix zweifelhaft aufwerten sollten. Vielleicht gelingt es vereinzelt, die Inhalte so allgemein zu halten, dass es wie beim Hundetrainer frei Haus gelingt, Inspiration zu leisten und Ängste abzubauen, anstatt sie zu verstärken. Die eher zufallsbasierte Auslieferung solcher Inhalte ist dabei ein Problem, das man im Auge behalten sollte, auch wenn man Content nicht einmal dann mehr einfängt, wenn man ihn löscht. Anstatt der besprochenen Superkraft sollten sich Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen die Beziehung zwischen der Organisation und den Anspruchsgruppen konzentrieren. Das fördert die Identität mit der Leistungsbereitschaft des Hauses. Loyalität und Reputation steigen, auch wenn wir das Niveau der Siebziger und Achtzigerjahre dabei nicht mehr erreichen.