Wie die Selbstbezogenheit sich ihren kulturellen Status erobern konnte
Geben wir es doch zu. In Social Media daddeln, machen wir doch alle gelegentlich. Ok. Häufiger, als wir es oft zugeben. Die meisten von uns passiv, ganz ohne Selbstbezogenheit. Der eigenen Wirklichkeit entfliehen zu wollen, hat es immer gegeben und meisten nutzen wir dafür zur Verfügung stehende Medien. Heute möchte ich ein Phänomen mit Euch teilen, von dem ich noch nicht genau weiß, ob wir daraus vielleicht eine Serie machen sollten.
Warum hat mir noch niemand erzählt, dass …
Vielleicht fühlst Du Dich erinnert an eines der letzten Shorts, Reels oder sonstigen Formaten, bei denen sich Menschen inszenieren, um eine Beobachtung zu teilen oder einfach nur auf Ihr Produkt oder eine Dienstleistung aufmerksam zu machen. Diese Art zu beeinflussen, hat sich als Influencing herumgesprochen. Influencer schauen viel voneinander ab. Was funktioniert, wird kopiert. In diesem Fall der Stil, Aufmerksamkeit zu erreichen.
Das ist legitim und wir alle werden uns daran gewöhnen müssen, falls es uns nicht gelingt, Abstand zu nehmen von den Timelines der sozialen Netzwerke. Was meine Beobachtung betrifft, möchte ich folgendes dazu anmerken und vielleicht teilst Du gelegentlich Deine Gedanken dazu.
Alle Varianten mit dem Satz »Warum hat mir noch niemand erzählt, dass wen ich …« tragen ein Übermaß an Selbstbezogenheit in sich, bei dem man sich die Frage stellen darf, warum das so erfolgreich ist. Im echten Leben wären wir noch schneller überdrüssig, wenn sich dauernd eine Person auf diese Weise beschwert. Ich verbinde mit dem Satz eine Art der Zurücksetzung, die in sozialen Medien offenbar genau andersherum funktioniert. Wie Baldrian Katzen wild macht, unterstützen wir offensichtlich Beiträge, die mit einem Defizit kokettieren, um uns für 30 oder mehr Sekunden auf dem Video zu halten. Präsentiert wird meistens eine Belanglosigkeit oder ein Produkt.
Tatsächlich ist das Copypasten aufmerksamkeitssteigernder Introvarianten ein Ding, das nur mit mangelnder Kreativität zu erklären ist. Genauso verhält es sich mit der Phrase »Probier’s aus«, die immer in einem ganz bestimmten Singsang präsentiert wird.
Was glaubst Du? Wie lange werden wir noch die Kommodifizierung unseres Verhaltens akzeptieren? Nutze gern den Link am Ende des Beitrags, um auf LinkedIn in den konstruktiven Kontakt mit uns zu treten.
Selbstbezogenheit oder »How can I make this about me?«
Eine 2015 erschienene Studie zu Social Media ist zwar auch schon wieder bald 10 Jahre alt. Die darin gefundene Definition erscheint mir noch gültig für unsere Betrachtung des Phänomens »How can I make this about me?«
Social Media sind internetbasierte Kanäle, die es Benutzern ermöglichen, opportunistisch zu interagieren und sich selektiv selbst zu präsentieren, entweder in Echtzeit oder asynchron, mit sowohl breiten als auch enger verstandenen Zielgruppen, die aus benutzergenerierten Inhalten und ihre Wahrnehmung die Interaktion mit anderen Nutzen ziehen*.
Die Definition wurde aus dem englischen übersetzt. Deshalb überliest man sie in einem deutschen Text nicht gefällig.
Die Definition ist wichtig, um zu verstehen, was sich kulturell abspielt. Durch die Passivität in Gemeinschaft mit einer stummen Masse in sozialen Netzwerken scheint es trotz Vereinzelung nötig zu sein, sich dergestalt voneinander abzugrenzen, in dem man sich inszeniert, um überhaupt wahrgenommen zu werden.
Mir nach, ich folge Euch.
So könnte das Motto lauten, wenn jemand versucht, ein Ding auf sich zu beziehen, um mehr Aufmerksamkeit zu erzielen. Wie oben eingeleitet, wählt er eine breit funktionierende Variante der Ansprache, um sich mit einem wichtigen Alleinstellungsmerkmal zu präsentieren.
Dabei erzeugen viele Nutzer groteske Beispiele, wie sie eine Tatsache, die andere betrifft oder mit der sich eine Peer-Group gerade beschäftigt, vereinnahme. Kurz: Wie kann ich daraus eine Selbstbezogenheit ableiten, damit mein Beitrag in einem sozialen Medium möglichst viel Aufmerksamkeit erreicht.
In diesem Beitrag habe ich zwei Beispiele gefunden, die das veranschaulichen sollen. Einmal zeigt sich im Frühjahr 2023 eine Influencerin vor einem indonesischen Reisfeld im Bikini oder Unterwäsche, während im Hintergrund Feldarbeiten wirken. Unter dem Bild vermerkt sie:
Ich denke darüber nach, wie unterschiedlich mein Leben im Vergleich zum Mann ist, der jeden Morgen im Reisfeld arbeitet.
Ein anderes Mal stirbt jemand, über den ich schon einmal in der Zeitung gelesen oder den ich in seiner Rolle im TV bewundert habe.
Auch in der Health Community ist dieses Phänomen zu beobachten. Wer LinkedIn aufruft und einigen Leuten dort folgt, wird vorwiegend bei den vermeintlich erfolgreichen das Phänomen beobachten. Anlässe wie Jobwechsel aufgrund persönlicher Erfolge im Rahmen der Selbstwerdung oder besondere Leistungen, die einen Preis erhalten haben, lassen wir uns dort in loser Reihenfolge gern gefallen. Mittlerweile reicht das Repertoire bei manchen bis zur moralischen Selbstüberhöhung. Diese besetzen dann kaum mehr ein Fachthema, sondern stillen ihre Sucht nach immer mehr Abonnent:innen gern dadurch, dass sie mit moralischer Überhöhung arbeiten und zu allen Weltzusammenhängen etwas mitzuteilen haben. Oft beobachtet werden kann auch, wie jemand es immer schon gewusst haben will und eine sich aktuell abzeichnende Entwicklung vor Jahren vorhergesagt haben will. Manchmal mag das auch stimmen. Doch worin liegt jetzt genau der Mehrwert?
Richtig. In der Sichtbarkeit durch Selbstbezogenheit um jeden Preis. Schade finde ich, dass sich kaum mehr jemand Mühe macht, schwere Texte zu lesen. Deshalb scheinen die Inhalte immer gefälliger zu werden, um ein massentaugliches Ja abzuholen. Verändern wir so die Welt? Wohl kaum.
tl;dr
Achte doch mal in den nächsten Reels und Posts, wie lange Du auf Beiträgen hängen bleibst, die eigentlich nicht viel beizutragen haben, außer ihren Verfasser ins Rampenlicht zu setzen, damit Du an ihn denkst. Das Phänomen der Selbstbezogenheit zieht sich über alle sozialen Medien und Netzwerke.
Berichte dazu gern auf LinkedIn. Das ist kein Widerspruch. Dieser Beitrag wird in Kürze auszugsweise drüben auf LinkedIn geteilt. Den Link findest Du gleich hier unter dem Text.
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(*) Caleb T. Carr & Rebecca A. Hayes (2015) Social Media: Defining, Developing, and Divining, Atlantic Journal of Communication, 23:1, 46-65, DOI: 10.1080/15456870.2015.972282