Ein neuer moralischer Kompass für die Gesundheitsökonomie: Die Vision einer inklusiven Gemeinschaft
Unter dem Titel "Creating a New Moral Political Economy" erschien mit der Ausgabe 152 im Winter 2023 ein Kanon aus Aufsätzen und Kommentierungen zu den Prinzipien, die unsere Gesellschaften und Wirtschaftssysteme künftig leiten sollten. Tatsächlich handelt es sich dabei um einen Ausweg, den ich so im Diskurs sich verändernder Gesundheitsmärkte in Deutschland bisher nicht erkennen will.
Für das Gesundheitswesen bietet die Vision einer »New Moral Political Economy« eine einzigartige Gelegenheit, sich mit Leitlinien zu versorgen, um sich als Vorreiter einer gerechten und prosozialen Gesundheitsökonomie um die Zukunft unseres Gesundheitswesens verdient zu machen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass sich die Vorschläge zwar auf lange Sicht auszahlen, aber gleich angenommen werden dürfen; und zwar jedenfalls aufgrund der aktuellen Schieflage beispielsweise aufseiten der Krankenhäuser.
Worum geht es bei »Creating a New Moral Political Economy« und was hat das mit dem Gesundheitsgeschehen zu tun?
Die wesentlichen Überlegungen greift Margaret Levi in ihrem Eröffnungsplädoyer auf und wir zeichnen hier mal grob die grundsätzlichen Linien. Das mag auf den ersten Blick mit dem Krankenhausalltag und den Zwängen auf Station, in Chefarztbüros und im Management wenig zu tun haben. Das stimmt so nicht. Wir haben nur Tonschichten an Ablenkungen über dem Wesentlichen entstehen lassen. Diese wesentlichen Unterschiede müssen neu verstanden werden, damit die Gesundheitsökonomie und das Gesundheitswesen sich neu bestimmten kann.
Die soziale Natur des Menschen: Die Anerkennung, dass Menschen soziale Wesen sind, die von Reziprozität und Kooperation profitieren, ist ein fundamentaler Schritt hin zu einem Gesundheitswesen, das Wohlstand für alle fördert [1]. Krankenhäuser und medizinische Versorgungszentren können hierbei eine Schlüsselrolle einnehmen, indem sie Strukturen schaffen, die die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gesundheitsakteuren stärken und eine Kultur des Miteinanders fördern. Das Krankenhaus kann unabhängig von anstehenden Reformen seinen Beitrag leisten, gegenüber der Community, für die man sich verantwortlich zeigt, die eigene Rolle neue zu verstehen.
Überwindung von Spaltungen: In einer Zeit, in der politische und wirtschaftliche Strukturen unter Druck stehen, müssen Gesundheitsorganisationen eine Vorreiterrolle einnehmen, um die Kluft zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften zu überbrücken. Exemplarisch muss die Betonung der Unterschiede zwischen niedergelassener und stationärer Versorgung aufhören. Eine Rückbesinnung auf die Menschen, die das Gesundheitswesen in Anspruch nehmen, ist zwingend. Selbst dann, wenn es um das eigene wirtschaftliche Vermögen geht, auch weiterhin Gesundheitsleistungen zu erbringen. Durch inklusive Praktiken und den Abbau von Barrieren können Gesundheitseinrichtungen in Gemeinschaft dazu beitragen, das Bewusstsein für gemeinsame Interessen zu stärken und eine umfassende Gemeinschaft des Schicksals zu bilden [1].
Institutionelle Neugestaltung: Die Umgestaltung der Institutionen im Gesundheitsbereich ist unerlässlich, um gemeinsame Werte und Ziele zu unterstützen. Dies erfordert ein Umdenken in Bezug auf Hierarchien, Demokratieverständnis und Machtverteilung. Hegemoniale Strukturen gehören auf den Prüfstand und richten sich künftig an einem wieder neu zu erlernenden Verständnis von Demokratie, das nicht allein auf die Abgabe eine Stimme bei der nächsten Wahl zielt, sondern nach echter Deliberation vor Ort sucht. Krankenhäuser und Versorgungszentren müssen ihre Organisationen so umstrukturieren, dass sie die soziale Verantwortung nicht nur als Lippenbekenntnis vor sich hertragen, sondern einen echten Unterschied machen können, um der Daseinsfürsorge gerecht zu werden.
Förderung prosozialen Verhaltens: Ein Gesundheitssystem, das auf dem Wohl aller basiert, verlangt nach einer Kultur, die prosoziales Verhalten unterstützt. Dies bedeutet, Handlungsweisen zu entwickeln, die das Interesse anderer berücksichtigen und Solidarität mit denen fördern, die möglicherweise Fremde sind und nicht direkt zurückgeben können. Allgemein schließt das mit ein, sich als Organisation im Diskurs zu neuen Solidaritäten einzumischen. Neben der solidarischen Finanzierung des Systems rücken Szenarien in den Fokus, die den Umgang mit Gesundheitsdaten, deren Liquidität mithilfe einer sich ständig anpassenden Interoperabilität und den Berücksichtigung externalisierten Datenmodellen berücksichtigt. Dabei sollte der einzelne Mensch in seiner Betroffenheit weiterhin nicht allein als Fall oder gar Datenset beurteilt werden.
Gemeinschaften der Zukunft: Um die Herausforderungen von Pandemien, Klimakrisen und wirtschaftlicher Unsicherheit zu bewältigen, ist es unabdingbar, dass Gesundheitsorganisationen als erweiterte und inklusive Gemeinschaften des Schicksals agieren. Ein Krankenhaus ist zwar ein Wirtschaftsunternehmen, hat jedoch auch Verantwortung für eine Community übernommen, die dialogisch entdeckt werden darf. Dieser Ansatz ist nicht idealistisch, sondern ein dynamisches Modell, das auf der besten sozialen und wissenschaftlichen Forschung basiert [1].
Schlussfolgerung
Die Konzepte, die im Dædalus [2] präsentiert werden, bieten genug Inspiration, sich mit Szenarien für ein Gesundheitswesen zu beschäftigen, das Gerechtigkeit, Fairness und sogar ökologische Nachhaltigkeit in den Vordergrund stellt. Gerade der letzte Punkt scheint in der Aufzählung (oben) nur durch, muss jedoch in Anbetracht einer menschenwürdigen Gesundheitsversorgung zwingend berücksichtigt bleiben. Es ist an der Zeit, dass Gesundheitsorganisationen sich unter anderem den hier vorgestellten Prinzipien widmen und aktiv eine neue moralische politische Ökonomie anstreben.
Aufruf zum Handeln
Ich lade alle Gesundheitsakteure auf, sich mit den Inhalten dieses wegweisenden Sonderheftes auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, wie diese Prinzipien in unserer täglichen Arbeit umgesetzt werden können. Es ist nicht ausschließlich eine Frage der Ethik, sondern auch eine der Effizienz und Nachhaltigkeit, die wir in den Einrichtungen verankern müssen.
Falls Gesprächsbedarf besteht, verweise ich auf mein ZEITGESCHENK+, das aufgeschlossene und diskursiv eingestellte Leser gern jederzeit in Anspruch nehmen dürfen.
Mit diesem Entwurf soll eine Grundlage für eine tiefgreifende Diskussion geschaffen werden, wie das Gesundheitswesen durch die Annahme und Umsetzung neuer moralischer und politischer Ökonomieprinzipien eine führende Rolle in der Gestaltung einer gerechten Gesellschaft einnehmen kann.
[1] Dædalus, Volume 152, Number 1; Winter 2023
[2] Dædalus ist die 1955 gegründete und seit 1958 vierteljährlich erscheinende Zeitschrift der American Academy of Arts and Sciences.