Er beteiligt sich an der Praxis des Gründe-Gebens und Gründe Nehmens
Heute habe ich es nach einiger Zeit wieder einmal in den 1-Satz-Literaturclub drüben auf LinkedIn geschafft. Der Club ist auch auf Clubhouse aktiv und wurde initiiert von der lieben Kollegin Judith Niederberger, Inhaberin der Kommunikationsagentur Lakritza aus der Schweiz.
Nach kurzem Zögern habe ich zum Beginn der Folge #748 des 1-Satz-Literaturclubs meine Hand gehoben, um derjenige zu sein, der heute den einen Satz in die Runde legen darf. Emanuel benannte daraufhin eine Seite in dem von mir ausgewählten Buch und wir landeten auf S. 333 von »Eine Theorie praktischer Vernunft« des Philosophen Julian Nida-Rümelin. Der erste vollständige Satz auf der Seite lautet:
Er beteiligt sich an der Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens.
Ich gebe zu, das wurde zu einer echten Herausforderung für die Teilnehmenden. Tatsächlich wunderte mich, dass ich gerade gestern exakt auf dieser Seite gearbeitet hatte. Die Seite gehört zum Kapitel ›Normativität‹, das sich mit dem Wirken von Gründen in der Praxis des Abwägens beschäftigt. Dieser Prozess, der sich ständig und ein ganzes Leben lang wiederholt, lässt sich als Deliberation bezeichnen. Wir verhandeln unsere Wirklichkeit und unser Weltverhältnis ständig. Es gibt innere und äußere Deliberationen. Sie sind stets dialogisch und vollziehen sich allein oder gemeinsam, manchmal unbewusst, und ein anderes Mal stark reflektierend.
Praxis des Abwägens
Meistens verhalten wir uns im Alltag eher passiv. Als geistige Lebewesen sind wir stark konditioniert. Das macht es mitunter schwer, einmal getrampelte Pfade zu verlassen. Manchmal handeln wir sehr bewusst. Unsere Handlungen führen uns an einen neuen Ort. Wir treffen Entscheidungen. Wir leben in einem Garten aus Vergabelungen, die sich aufgrund unserer fehleranfälligen Kontaktaufnahme mit der Welt kaum vorhersagen lassen. Sicher, in Teilen ahnen wir, wann sich der nächste Hunger einstellt. Doch warum ich heute Morgen um 8:10 Uhr nicht wusste, warum gerade ich die Richtung des 1-Satz-Literaturclub inhaltlich mit meinen Vorschlägen inspirieren sollte, zeigt, dass wir unberechenbar sind. Gründe können wir a posteriori meisten angeben und diese Gründe sind normativ, was wir weiter unten noch näher besprechen.
Auf Nachfrage führen wir häufiger deskriptive Gründe an; repräsentiert durch das im Satz gespiegelte Gründe-Geben. Wir nehmen auch Gründe an, wenn wir etwas vorgelebt bekommen, ein gutes Argument erkannt haben und es uns zu eigen machen, um daraufhin unser künftiges Handeln anzupassen. So das im Satz angeführte Gründe-Nehmen. Dieses Wechselspiel markiert die Praxis des Abwägens → der Deliberation.
Wäre jemand unter den Teilnehmern gewesen, der mit der Arbeit von Julian Nida-Rümelin vertraut ist, hätte er gleich erkannt, worum es hier geht. Erstaunlich war deshalb, wie hervorragend der Satz von den Anwesenden aufgegriffen und sehr intuitiv die Richtung gefunden wurde, worum es hier geht. Einige fragten sich, wer dieser ›Er‹ sein könnte. Bemerkenswert fand ich den von Jeanette vorgebrachten Aspekt, dass wir die Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens wieder stärker berücksichtigen und beherzigen sollten.
Ich empfinde es als Übel, dass wir Gründe viel zu häufig stumm erwarten. Es muss wieder Teil der aktiven Kommunikation werden, Gründe anzugeben.
Auch Katja meinte kurz zuvor, wir sollten tatsächlich viel mehr Gründe geben, wenn wir handeln. Unaufgefordert und nicht erst auf Nachfrage.
Zum guten Ton im Literaturclub gehört es, als Teilnehmer nicht herausfinden zu wollen, um was es wirklich bei dem Satz geht, sondern sich inspirieren zu lassen. Auch verrät der Buchgeber zu Beginn nicht, um welchen Titel es sich handelt. Ein zufällig ausgewählter Teilnehmer nennt dann eine Seite im Spektrum des nummerierten Inhalts und die Reise beginnt.
Generative KI für Ausreden
So ließ Andreas den Satz in einem Unternehmen auftauchen, das vor den Herausforderungen steht, Veränderungen umzusetzen und sich neu zu strukturieren. Etwas dystopisch angehaucht deutet er den Satz als Werkzeug der Rechtfertigung und erfand kurzerhand eine neue Vorstandsposition des Chief Ausreden Officer (CAO) oder wie er es ausdrückte den Chief Of Ausreden (COA). Sehr kreativ.
Judith, ein Fan generativer KI, erdachte, dass es vielleicht bald einen Algorithmus geben könnte, der fortlaufend Entschuldigungen produziert. Dabei stellte ich mir die Frage, wie groß wohl die Datenlage sein müsste, um das Lernen von Ausreden auf der Ebene eines einzelnen Unternehmens zu gewährleisten. Allgemeiner kann ChatGPT das heute schon gut, wenn man dem Prompt ausreichend Informationen gibt. Hieran erkennt man, warum der Satz eine solche Tiefe besitzt. Nicht nur aufgrund seiner ungewohnten Vokabeln.
Gründe sind stets normative Relationen zwischen Tatsachen
Informationen werden heute ständig gegeben. Informationen sind meist Tatsachen oder Sachverhalte, die keine Gründe sind. Gründe sind die Relationen zwischen den Tatsachen. Wir verwenden Gründe immer inferenziell: Der Grund verbindet einen deskriptiven Sachverhalt (»Wir haben eine Atombombe gebaut«) mit einem rationalen Sachverhalt (»Sie soll den Krieg beenden«) und diese Verbindung, dieser Übergang macht den Grund als ganzen aus (»Wir sollten keine Atombombe abwerfen«). Gründe sind niemals Tatsachen, sondern stets Relationen.
Die Atombombe kann auch ein scharfes Messer sein, das wir Kindern nicht ohne Aufsicht überlassen sollten. Ein solches Beispiel steht im Buch. Ich verwende hier und heute die Atombombe, weil wir am Ende des 1-Satz-Literaturclubs noch auf den Film Oppenheimer zu sprechen kamen.
Riccarda ist eine Moderatorin des 1-Satz-Literaturclub und zeigte sich noch ganz beeindruckt von dem Film, den sie jüngst im Kino gesehen hatte. Übrigens, ein toller Beweis, wie ein einzelner aus dem Kontext gerissener Satz (Äußerung, Bemerkung, …) dazu führt, dass wir ihn mit unseren Sinnfeldern (vgl. Sinnfeldontologie) vermischen. Wo und wie etwas im Geiste eines Subjekts erscheint, ist eine wichtige Sache und diesen Einwand hatten wir schon von Jeanette gehört, die sich daran stößt, dass wir Gründe oft nur vermuten sollen.
Ich unterstelle Oppenheimer einmal frech, zunächst ein Naturalist gewesen zu sein. Später wandte er sich gegen den Einsatz solcher Waffen, die er mit dem von ihm verantworteten Manhattan Project erst ermöglichte. An dieser Figur lässt sich gut nachvollziehen, was mit dem Gründe-geben und Gründe-nehmen gemeint ist. Gründe sind, wie wir gehört haben, die Verbindung zwischen zwei Tatsachen. Die Tatsache, eine Atombombe erfunden zu haben und ihr Abwurf sind zwei Tatsachen, die im engen Verhältnis zueinanderstehen. Das unmenschliche Leid, das damit ausgelöst wurde, überzeugte Robert Oppenheimer leider erst spät. Nachträglich ächtete er den Einsatz von Nuklearwaffen. Ob ihn das schon zu einem Realisten machte, lässt sich schwer beurteilen. Gründe sind stets normativ. Sie verweise auf ein ›Sollen‹ und tragen eine Bewertung in sich. Eine deskriptiven Grund, den Einsatz einer Atombombe abzulehnen, gibt es nicht. Ein rein beschreibender Grund greift zu kurz. Jemand, der beschreibt, in Nagasaki wurde eine Atombombe abgeworfen, die 100.000 Menschen tötete, impliziert in seiner nüchternen Beschreibung noch keine Deliberation und Veränderung. Nur von normativen Gründen lassen wir uns affizieren, wägen neu ab und kommen zu neuen Schlüssen, um unsere Praxis anzupassen.
Nachbereitung des Clubs: Jeder Satz wird dokumentiert. Im Blog des 1-Satz-Literaturclubs wird jedes Treffen nachbereitet und so auch dieser Talk über den Satz des Gründe-Gebens und des Gründe-Nehmens. Lest also drüben bei Judith, wie Sie das Gespräch von der anderen Seite angefühlt hat. Besonders gut hat mir gefallen, dass diese Botschaft angekommen ist: »Inmitten all der #Algorithmen, die uns heute umgeben, ist es – rund 250 Jahre nach Immanuel Kant – Zeit für eine Renaissance der Vernunft.« – ich würde das noch steigern und gleich von einer neuen Aufklärung sprechen. Vielleicht bei einem der nächsten Male.
Trennung von Vernunft (reason) und Rationalität (rationality) ist falsch
Wie oben erwähnt, passiert das jeden Tag mehrmals und unser ganzes Leben lang. Warum es im Falle der Erfindung der Atombombe schieflaufen konnte, erklärt sich an einer entfremdeten Vernunft, die als instrumentell eingestuft werden muss. Oft passiert es, dass wir unvernünftige Dinge tun, die wir rational begründen wollen. Selten richtet das den Schaden an, den eine Atombombe hinterlässt.
Die Trennung von Rationalität und Vernunft ist daher ein Irrweg. Das wollen wir nicht, wie sich am Beispiel Nagasaki zeigt. Jemand will (rational) den Krieg gewinnen und vollzieht eine unvernünftige Handlung, die in diesem Fall schon bei der Entdeckung der Atombombe beginnt. Oder umformuliert. Jemand hält es für vernünftig, den Krieg zu beenden und greift zu einer aus seiner Sicht zu einer Lösung, die erst im Nachhinein als irrational bezeichnet werden kann. Heute steckt die Welt im Krieg, wenn auch nicht an der Front. Es gibt Menschen und Gruppen, vielleicht die Mehrheit einer ganzen Nation, die Krieg als vernünftiges Mittel erachtet. Irrational bleibt das Töten.
Instrumentelle Vernunft flüstert uns falsche Rationalität ein. Denke der Leser nur an die Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg. Mit der Wannsee-Konferenz wurde das unvernünftige Töten rational gelöst. Es schaudert einem beim Schreiben dieser Zeilen.
Zurück in die heutige Zeit. Viele Unternehmen stehen künftig vor zahlreichen Herausforderungen, die wir nicht mehr mit Mathematik lösen. Ökonomische Rationalität, die Statistiken entnommen werden kann, lässt den Menschen oft zurück. Nicht falsch verstehen. Betriebswirtschaftliche Berechnungen optimieren betriebswirtschaftliche Ergebnisse. Was wir außerdem benötigen, ist ein ethischer Realismus, der vor jeder Praxis Ernst macht, mit einem Humanismus, der sich in praktischer Vernunft leiten lässt und die gemeinsam handlungsleitend sind. Handlungen nur aus einer Statistik herauszulesen, sind kein hinreichender Grund für unmenschliche Entscheidungen. Wir haben bereits gehört, dass deskriptive Gründe uns nicht leiten. Es gilt stets zu deliberieren, die Waage zu halten, wie betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten sich mit dem Menschlichen vertragen.
Fazit
Der im 1-Satz-Literaturclub besprochene Satz gehört auf Buchseite 333 des Opus Magnum »Eine Theorie praktischer Vernunft«. Dieses Buch ist kein Rezeptbuch, wie sein Autor Julian Nida-Rümelin betont. Es sei nicht einmal eine Theorie im eigentlichen Sinne, sondern ein Vorschlag zur Diskussion, ein Konzept und eine Sichtweise auf die Begriffe, die praktische Vernunft leiten können. Deshalb lege ich dieses Buch jedem ans Herz, der sich intensiv und schürfend mit neuen Werten beschäftigt und in einer Wirklichkeit aus linearen, kausalen und algorithmisierten Entscheidungsprozessen nach handlungsleitenden Empfehlungen sucht, sich der zunehmenden Komplexität zu stellen. Jeden Tag, ein Leben lang.
Zur Unterstützung von Unternehmen – nicht nur im Gesundheitswesen – schlage ich deshalb die Rolle des Chief-Philosophy-Officers (CPO) vor, der gleich mal den Chief Of Ausreden entlassen könnte. Es muss nicht gleich eine Vorstandsposition sein. Werde selbst praktischer Philosoph und ebne der Vernunft ihre Renaissance, damit wir zu realistischen Bezügen und einem moralischen Fortschritt in dunklen Zeiten zurückfinden.
Vielen Dank für das Feedback zum Talk und zu diesem Text.
Lieber Frank, vielen Dank fürs Buch heute und Deine spannende Präsentation – das war ein Hochgenuss!